Das Kabuki Syndrom, eine seltene genetische Erkrankung, fordert durch seine Komplexität und die Vielfalt seiner Symptome heraus.
Erstmals wurde das Kabuki Syndrom in Japan identifiziert. Benannt wurde es wegen der charakteristischen Gesichtszüge Betroffener, die traditionellen Kabuki-Theatermasken ähneln.
In diesem Artikel geht es hinein in die Welt des Kabuki Syndroms. Und ich wage den Versuch – aus eigener Betroffenheit – zu zeigen, was es bedeutet, damit zu leben. Ich beleuchte die medizinischen, sozialen und emotionalen Aspekte und biete wertvolle Einblicke, wie Betroffene und ihre Familien Unterstützung finden können.
Unsere Kabuki-Geschichte
Unser zweiter Sohn hat das Kabuki Syndrom. Seit 2017 leben wir zusammen als behinderte Familie und erleben viel Spannendes, Wunderschönes und überfordernd Herausforderndes.
Auf meinem Blog kannst du verschiedenste Erlebnisse unserer behinderten Familie nachlesen. Und dich über Kabuki informieren und mit mir ins Gespräch kommen. Ich freue mich auf deine Kommentare, Fragen, Erlebnisberichte etc.
Einen Überblick über alle Artikel zu Kabuki und unserer Geschichte findest du hier.
Zwei kleine Episoden aus unserem Leben erzähle ich dir hier. Sie zeigen ziemlich gut die Bandbreite von „wunderbar“ zu „hoffnungslos überfordert“.
Die unmögliche Entscheidung
„Wenn ich an ihrer Stelle wäre, wüsste ich auch nicht, wie ich entscheiden sollte“, erklärte der Oberarzt der Herz-Intensivstation, zuckte entschuldigend mit den Schultern und verabschiedete sich. Meine Frau flüsterte: „Was machen wir denn jetzt? Wir können doch nicht über Leben oder Tod unseres Sohnes entscheiden“. Ohne die volle Tragweite dieser Worte zu begreifen, antworte ich leise: „Ich fürchte, dass sie genau das von uns verlangen.“
Im Jahr 2019 musste unser Sohn 02 mehrere schwere Herzoperationen überstehen. Das hieß für uns: Monate auf der Intensivstation, auf Zeit getrennte Familie, Überforderung, viele schwere Arztgespräche, noch mehr schwierige Entscheidungen und Hilflosigkeit. Nach zwei komplexen Eingriffen war klar, dass sein Herz allein nicht im Takt schlagen würde. Die Möglichkeit einer Herzschrittmacher-OP wurde diskutiert. Aber die restlichen Umstände seiner Gesundheit waren höchst unklar.
Niemand konnte voraussagen, wie gut seine Nieren nach der OP-Zeit funktionieren würden (oder ob überhaupt). Niemand konnte uns versichern, ob der Herzschrittmacher ihm ein gutes Leben oder ein Dahinvegetieren bescheren würde.
Und wir sollten entscheiden. Wir, als Eltern, waren gezwungen über Leben und Tod unseres Sohnes entscheiden. Und uns war klar, dass wir das eigentlich nicht können. Dass uns solch eine Entscheidung einfach nicht zusteht … und trotzdem mussten wir sie treffen.
Wir haben gerungen. Mit uns. Mit Gott. Und schlussendlich trafen wir eine Entscheidung. Standen alles durch. Und sind heute sehr, sehr froh, dass Sohn 02 samt Herzschrittmacher und allen gebliebenen Herausforderungen fröhlich durch die Wohnung tobt.
Abendessen-Comedy
Die ganze Familie sitzt beim Abendessen und plant schmatzenderweise den kommenden Frühlings-Feiertag. Grillen ist angesagt, das ist schnell klar. Das mögen schließlich alle. Sohn 02 auch, weil wir dann alle zusammen im Garten sitzen, Zeit haben und er vor sich hinwurschteln kann, wie er mag. Nicht etwa, weil er Fleisch o. Ä. essen würde. Dinge mit Textur zu schlucken, ist nicht so sein Ding – vorsichtig ausgedrückt. Dafür mag er Camembert in rauen Mengen; zumindest das Innere. Auch vom Grill.
Wir überlegen, wen wir zum Grillen einladen könnten. Und ich nenne eine befreundete Familie, die wir schon länger nicht gesehen habe. Sohn 01 freut sich über die Idee anscheinend riesig. Denn er springt mit einem Ruck und lauten „Jaaaaaa!“ auf und will mir um den Hals fallen. Er wockt dabei seinen halb vollen Teller um und haut mir seine Hand gegen die Lippe – aber er ist glücklich.
Von der anderen Tischseite höre ich es laut wiehernd lachen. Sohn 02 steht auf seinem Stuhl. Er krakelt: „Mama, der ist gefliegt wie ein Vogel!“. Er lacht laut und schmeißt sich im wahrsten Sinne des Wortes fast weg dabei. Alle müssen lachen. Und wir Eltern staunen. Weil das noch nicht lange klappt, dass Sohn 02 spontan in Situationen reagiert. Und sich dazu auch noch passend ausdrücken kann. Halleluja!
Im Verlauf des Abends hört man es immer wieder glucksen. Und dann bricht es aus ihm hervor: „Gefliegt wie ein Vogel! Das war lustig, oder?“ Selbst beim Gute Nacht Sagen sind die Flugkünste seines Bruders das bestimmende Thema.
Was haben wir viel gelacht an dem Abend! Die Familie konnte dann übrigens nicht zum Grillen kommen. Aber aufgeschoben … und so.
Das Kabuki Syndrom: Grundlagen
Eine seltene genetische Erkrankung
Das Kabuki Syndrom ist eine seltene genetische Erkrankung, die nach den Masken des japanischen Kabuki-Theaters benannt ist. Warum? Weil die Betroffenen ähnliche Gesichtszüge aufweisen. Doch die Symptome gehen weit darüber hinaus.
Die Ursache des Kabuki Syndroms liegt meist in Mutationen der Gene KMT2D und KDM6A.
Erstmals beschrieben wurde das Syndrom 1981 von den japanischen Ärzten Niikawa und Kurokiin und ist weltweit selten.
Warum es bislang tatsächlich schwierig ist, eine genaue Anzahl Betroffener zu benennen, kannst du hier nachlesen.
Symptome des Kabuki Syndroms
Betroffene des Kabuki-Syndroms zeigen eine Vielzahl markanter Symptome. Zu den auffälligsten Merkmalen gehören markante Gesichtsmerkmale, Wachstumsverzögerungen, Skelettanomalien und geistige Entwicklungsstörungen. Darüber hinaus treten häufig Organanomalien auf, wie Herzfehler, Nierenfehlbildungen und Probleme im Verdauungstrakt.
Die Symptome können stark variieren und erfordern eine umfassende medizinische Betreuung durch ein multidisziplinäres Team.
Diagonse des Kabuki Syndroms
Die Diagnose des Kabuki Syndroms ist herausfordernd, da die Symptome vielfältig und unterschiedlich ausgeprägt sind.
Zu den wichtigsten diagnostischen Tests gehört die genetische Sequenzierung, wie das Whole Exome Sequencing (WES), das Mutationen in den Genen KMT2D und KDM6A identifiziert. Zusätzlich werden bildgebende Verfahren wie Herz- und Nierenultraschall sowie Röntgenaufnahmen eingesetzt.
Oft wird die Diagnose im frühen Kindesalter gestellt. Aufgrund der verschiedenen Ausprägung der Symptome und der relativen Unbekanntheit des Syndroms ist von einer hohen Anzahl von Nicht-Diagnosen auszugehen.
Genetik und Vererbung
Die Vererbung des Kabuki Syndroms ist komplex und meist sporadisch.
Diese seltene genetische Erkrankung wird durch Mutationen in den Genen KMT2D und KDM6A verursacht.
Oft treten diese Mutationen de novo auf, also ohne Vererbung von den Eltern. In einigen Fällen kann das Syndrom X-chromosomal vererbt werden, besonders bei Mutationen im KDM6A-Gen.
Eine genetische Beratung ist ratsam, um das Wiederholungsrisiko für Geschwister zu verstehen und informierte Entscheidungen über zukünftige Schwangerschaften zu treffen.
Wie wird das Kabuki Syndrom behandelt?
Die Behandlung des Kabuki Syndroms erfordert ein interdisziplinäres Vorgehen. Zu den wichtigsten Therapien zählen Physiotherapie, Ergotherapie und Sprachtherapie, um die motorischen und kommunikativen Fähigkeiten der Betroffenen zu verbessern. Auch psychologische Unterstützung und spezialisierte medizinische Betreuung sind essenziell. Eine Heilung ist bisher nicht möglich.
Die genetischen Grundlagen spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von weiterführenden Behandlungsstrategien und der Erforschung evtl. möglicher Heilungschancen. Betroffenen wird eine genetische Beratung empfohlen, um die spezifischen Bedürfnisse der Patienten zu verstehen und optimal zu behandeln.
Leben mit Kabuki Syndrom
Einfluss auf das Leben Betroffener
Das Kabuki Syndrom beeinflusst das Leben der Betroffenen und ihrer Familien auf vielfältige Weise. Diese seltene genetische Erkrankung bringt Herausforderungen für Alltag, soziale Interaktion und emotionale Gesundheit mit sich.
Menschen mit Kabuki Syndrom erreichen meist das Erwachsenenalter, doch gesundheitliche Probleme wie Herzleiden können die Lebensdauer beeinflussen. Unterstützung durch Spezialisten und psychologische Hilfe sind entscheidend.
Kinder mit Kabuki Syndrom benötigen spezialisierte Bildungsansätze und unterstützende Arbeitsumgebungen.
Regelmäßige medizinische Überwachung und Therapien verbessern die Lebensqualität.
Eine ausgewogene familiäre Unterstützung ist zudem wichtig, um ein erfülltes Leben zu ermöglichen.
Herausforderungen für Familien von Betroffenen
Das Kabuki Syndrom stellt betroffene Familien vor große Herausforderungen. Eltern spielen eine entscheidende Rolle dabei, das Wohlbefinden ihrer Kinder zu fördern.
Eine gut organisierte Umgebung, die Sicherheit und Unabhängigkeit unterstützt, ist essenziell. Dazu gehören Anpassungen im Wohnraum, eine klare Tagesroutine und regelmäßige therapeutische Aktivitäten wie Physiotherapie, Sprachtherapie und Ergotherapie.
Ebenso wichtig ist die emotionale Unterstützung: Durch aktives Zuhören, Ermutigung und eine liebevolle Umgebung kann das Selbstwertgefühl der Kinder gestärkt werden. Soziale Aktivitäten helfen, Isolation zu vermeiden und Freundschaften zu fördern. Medizinische Check-ups und die Kommunikation mit Fachkräften sind ebenfalls notwendig, um alle Gesundheitsbedürfnisse zu adressieren.
Die aktuelle Forschung rund um das Kabuki Syndrom
Die aktuelle Forschung zum Kabuki Syndrom bringt ständig neue Erkenntnisse und Hoffnung für Betroffene und ihre Familien. Wissenschaftler weltweit arbeiten daran, die genetischen Ursachen dieser seltenen Erkrankung besser zu verstehen und innovative Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln, wenn es bislang auch nur wenige Studien gibt. Dazu gehören epigenetische Therapien, molekulare Therapien und Stammzelltherapien. Auch die Effektivität von Kombinationstherapien wird untersucht, um die Symptome umfassender zu behandeln. Internationale Kooperationen und die Einbindung von Betroffenen und Familien spielen eine wichtige Rolle in der Forschung.
Inklusion
Warum Inklusion und Akzeptanz so wichtig sind
Die Inklusion und Akzeptanz von Menschen mit Kabuki Syndrom in der Gesellschaft ist entscheidend für deren Lebensqualität und Selbstwertgefühl.
Diese seltene genetische Erkrankung bringt einzigartige Herausforderungen mit sich, die oft Missverständnisse und Vorurteile hervorrufen. Deswegen sind Aufklärung, Bildung und strukturellen Anpassungen so wichtig, um Vorurteile abzubauen und eine unterstützende, verständnisvolle Gesellschaft zu schaffen.
Aus eigener Erfahrung können wir sagen, dass wir davon als Gesellschaft leider noch viel zu weit entfernt sind.
Wer bietet Informationen und Unterstützung an?
Da das Kabuki Syndrom eine so komplexe und seltene genetische Erkrankung ist, die Betroffene und ihre Familien vor viele Herausforderungen stellt, ist der Zugang zu verlässlichen Informationen und Unterstützungsressourcen unerlässlich.
Weltweit bieten mehrere Organisationen Unterstützung und Ressourcen an, darunter die Kabuki Syndrome Foundation, das Kabuki Syndrome Network und EURORDIS. In Deutschland sind ACHSE e.V., die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V. und der BVKM wichtige Anlaufstellen. Diese Organisationen vernetzen Betroffene, fördern die Forschung und bieten wertvolle Informationen und Hilfestellungen an.
Und was kannst du jetzt konkret tun?
Du kannst durch Aufklärung, Spenden, Freiwilligenarbeit und direkte Unterstützung einen Unterschied machen.
Informiere dich gründlich über das Syndrom, teile dein Wissen und nimm an Aufklärungskampagnen teil, insbesondere während des Monats zur Sensibilisierung für seltene Krankheiten im Februar und des Kabuki-Syndrom-Monats im Oktober.
Engagiere dich aktiv in Organisationen und Stiftungen, um Forschung und Unterstützung zu fördern.
Jeder Beitrag zählt und trägt zur Inklusion und Akzeptanz bei.
Dieser Artikel ist auch mein Beitrag zur Blogparade „Über welche Themen könntest du stundenlang sprechen und was sollte ich darüber wissen?“ von Birgit Oppermann.
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Bilder: privat, Dall-E, Canva. Bild Kabuki-Masken: Foto von Daniel Bernard auf Unsplash.
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Hallo Heiko,
danke für deinen Einblick in die Krankheit.
Mich würde interessieren, wie sich die Krankheit im Alltag (Einkaufen, Schule, Kindergarten,..) bemerkbar macht.
In welchen Situationen gibt es Herausforderungen?
In welchen Situationen Leichtigkeit?
Lieber Heiko,
vielen Dank für deine Teilnahme an der Blogparade! Diesen Artikel von dir hatte ich sogar schon vorher gelesen. Es ist so wichtig, über seltene Erkrankungen aufzuklären und darüber zu sprechen, wie das Familien- und Alltagsleben aussehen kann, wenn man betroffen ist. Du machst das auf eine sehr persönliche und gleichzeitig faktenbasierte Weise, das mag ich sehr.
Viele Grüße
Birgit
Hallo Birgit,
ach wie cool, dass du den Artikel schon kanntest!
Danke für deine Blogparade und die Möglichkeit, unser „Familien-Thema“ einzubringen.
Viele Grüße,
Heiko