Kinder sind Meister darin, zu fühlen.
Und manchmal überfordert uns Erwachsene genau das.
Besonders dann, wenn ihre Freude zu viel, ihre Angst zu groß, ihre Wut zu laut wird.
Was sollen wir tun, wenn unser Kind emotional überläuft?
Beruhigen? Grenzen setzen? Gefühle erklären?
Oder vielleicht: einfach bleiben?
In ihrer Blogparade „Kindergefühle: managen oder begleiten?“ lädt Regine Behrens dazu ein, über genau diese Fragen nachzudenken – aus der Sicht von Eltern, Pädagog:innen, Coaches, Wegbegleiter:innen.
Ich möchte mit diesem Beitrag meine Perspektive teilen:
Nicht als Expertencoach, sondern als Vater.
Von einem besonderen Kind. Mit ganz besonderen Gefühlen.
Am Beispiel der ersten Klassenfahrt von Sohn 02.
Wenn Vorfreude zu viel wird – und Loslassen weh tut
Der Bus stand schon auf dem Hof.
Lehrkräfte mit Listen.
Taschen, die zu groß waren für die Körper, die sie tragen sollten.
Und mittendrin: mein Sohn.
Rucksack auf dem Rücken. Strahlendes Gesicht. Und eine Aufregung, die kaum zu bändigen war.
Er fährt auf Klassenfahrt.
Zwei Nächte. Ohne uns.
Zum allerersten Mal.
Und während er winkt – mit seiner ganzen ungebremsten Freude –
spüre ich, wie in mir etwas reißt.
Nicht weil ich ihm das nicht gönne.
Sondern weil ich ihn liebe.
Diese Fahrt war wochenlang Thema bei uns zu Hause.
Tage wurden gezählt, Pläne gemacht, T-Shirts gefaltet, Medikamente vorbereitet, Listen geschrieben.
Und gleichzeitig wurde viel geweint.
Geschrien.
Festgehalten.
Nicht aus Angst, sondern aus zu viel Gefühl.
Denn wenn man ein Kind hat, das mehr fühlt, als es manchmal tragen kann,
dann lernt man fast schon gewzungenermaßen:
Gefühle lassen sich nicht managen.
Aber sie lassen sich begleiten.
Und das ist vielleicht das Schwierigste und Schönste zugleich.
Was man wissen sollte: Kabuki-Syndrom und große Gefühle
Unser Sohn lebt mit dem Kabuki-Syndrom, einer seltenen genetischen Besonderheit, die sich auf viele Lebensbereiche auswirkt – körperlich, kognitiv, emotional.
Was das konkret heißt?
Gefühle kommen bei ihm z. B. in voller Lautstärke.
Wenn er sich freut, dann zu hundert Prozent.
Ganz. Ohne Zurückhaltung.
Seine Freude füllt den Raum. Steckt an.
Und manchmal denke ich: So möchte ich auch mal wieder fühlen können.
Aber genau so ist es auch mit Wut, mit Verzweiflung, mit Angst.
Wenn etwas nicht klappt, wenn eine Übergangssituation ihn überfordert oder eine Erwartung nicht erfüllt wird – dann ist das Gefühl sofort da.
Ungefiltert. Ganzkörperlich.
Ein Ausdruck, der nicht erst über Sprache läuft, sondern direkt über Stimme, Bewegung, Stimming, Tränen.
Was dabei oft fehlt, ist das, was Fachleute Selbstregulation nennen.
Die Fähigkeit, Gefühle zu sortieren, einzuschätzen, innerlich zu „dosieren“.
Für viele Kinder mit Kabuki-Syndrom ist das schwer bis unmöglich – für unseren Sohn auch.
Und gerade dann zeigt sich, wie wichtig Co-Regulation ist:
Menschen, die da sind, die nicht bewerten oder „erziehen“, sondern mit aushalten.
Menschen, die Halt geben, wenn alles kippt.
Die mit lieben, wo alles zu viel wird.
Nicht perfekt – aber präsent.
„Wenn mein Kind von seinen Gefühlen überrollt wird, ist meine Aufgabe nicht, sie zu stoppen, sondern ihm einen sicheren Raum zu bieten, in dem es sich gehalten fühlt.“
Und ja: Das ist herausfordernd. Ziemlich sehr sogar.
Aber es ist auch kostbar.
Weil ich durch ihn lerne, dass Gefühle keine Feinde sind.
Sondern tiefe, echte Lebenszeichen.
Wenn Vorfreude kippt – und du nicht helfen kannst
Er konnte die Tage bis zur Klassenfahrt nicht zählen.
Nicht so wie andere Kinder.
Zahlen sind für ihn wie Wolken – manchmal sichtbar, aber schwer zu greifen.
Also haben wir einen Kalender gebastelt.
Große Kästchen. Bunte Stifte.
Und jeden Morgen: ein Kreuz.
Ein Stück Sicherheit in einem großen, aufgeregten Gefühl.
Aber mit jedem Kreuz wurde die Anspannung spürbarer.
Je näher der Tag rückte, desto schwerer fiel das Einschlafen, desto dringender der Wunsch, aber doch bitte jetzt endlich alles schon mal einzupacken. Und immer wieder die Versicherung, wie was laufen wird. „Du bringst mich dann morgens zur Schule, Papa, ja? Mit allen Sachen?“
Vorfreude ist nicht immer leicht.
Manchmal wird sie zu viel.
Manchmal wächst sie so groß, dass sie das ganze Kind zu sprengen droht.
Dann weinte er. Laut. Unkontrolliert.
War plötzlich wütend, weil der Reißverschluss vom Koffer klemmte.
War traurig, weil sein Bruder nicht mitfahren darf.
War hilflos, weil sein Herz so voll war, dass kein Halten mehr ging.
War anhänglich und brauchte Körperkontakt.
Wurde wütend, weil … einfach weils so ist, wie es ist. Und das ist zu viel.
Und ich stand da.
Mitten in diesem Sturm.
Mit dem Wunsch, ihn zu beruhigen – und der Ahnung, dass ich das nicht kann.
Nicht soll.
Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen:
Er braucht mich nicht als „Korrektiv“, das seine Gefühle einordnet.
Er braucht mich als sicheren Hafen.
Als erwachsene Seele, die groß genug ist, seine Überforderung mit auszuhalten.
Begleitung heißt für mich:
Nicht „beruhige dich“ zu sagen –
sondern Ruhe zu sein.
Nicht gegen das Gefühl zu kämpfen –
sondern ihm Raum zu geben.
Es mitzutragen.
Nicht immer zu wissen, wie das geht –
aber bereit zu sein, da zu bleiben.
„Du bist gut. Nicht erst, wenn du wieder lächelst. Auch jetzt. Auch mit der Wut.
Deine Wut darf da sein. Sie gehört zu dir. Ich geh nicht weg. Ich bleib. Mit dir. Mit allem.“
Ich glaube: So handelt auch Gott.
Nicht als himmlischer Manager unserer Emotionen.
Sondern als der, der „Ich bin da“ sagt.
Der nicht wegräumt, was uns überfordert.
Aber der es mitträgt.
Mit Herz. Mit Nähe. Mit Gegenwart.
Und so habe ich mich selbst erinnert:
Ich muss nicht perfekt begleiten.
Ich darf einfach bleiben.
Auch wenn es schwer ist.
Wenn es etwas mit mir macht.
Denn seine Gefühle treffen auf meine.
Seine Überforderung ruft meine eigene hervor.
Sein Weinen löst mein altes, hilfloses Kind in mir aus.
Aber vielleicht ist genau das der Ort, an dem echtes Begleiten beginnt.
Was Begleitung bedeutet – und was nicht
Ich habe in diesen Tagen viel über mein eigenes Bild vom Elternsein nachgedacht.
Über diesen unterschwelligen Druck, dass gute Eltern ihre Kinder im Griff haben.
Dass man Emotionen beruhigen, Ausbrüche abmildern, das große Gefühl möglichst kleinhalten soll. (Wer ist eigentlich dieser „man“, der das immer allen zu sagen scheint?)
Aber mein Sohn hat mich eines Besseren gelehrt.
Er hat mir gezeigt: Gefühle wollen nicht „gemanagt“ werden.
Sie wollen gesehen, gehalten und ausgehalten werden.
Manchmal sind sie laut, wild, unberechenbar –
und manchmal muss man einfach nur daneben sitzen und nicht fliehen.
Begleitung bedeutet nicht:
– dass ich Antworten habe.
– dass ich alles im Griff habe.
– dass ich unangenehme Gefühle aus der Welt schaffe.
Begleitung bedeutet:
– dass ich bleibe, auch wenn ich nichts tun kann.
– dass ich aushalte, was ich nicht lösen kann.
– dass ich vertraue, dass es weitergeht – durch das Gefühl hindurch.
„Begleiten bedeutet, im Sturm der Emotionen präsent zu bleiben, ohne den Sturm kontrollieren zu wollen.“
Ich glaube, das ist der Moment, in dem aus Elternschaft echte Beziehung wird.
Nicht eine pädagogische Aufgabe, sondern eine geteilte Menschlichkeit.
Und vielleicht ist es genau das, was Kinder von uns brauchen:
Nicht unsere Stärke. Sondern unsere Gegenwart.
Als mein Sohn einmal weinend vor seinem Kalender stand,
weil er nicht mehr warten wollte,
weil alles zu viel wurde –
habe ich mich einfach zu ihm gesetzt.
Ich habe nicht gefragt, warum.
Ich habe nicht erklärt, dass es doch toll wird.
Ich habe nicht mit Logik geantwortet.
Ich habe ihn gehalten.
Und in mir selbst gespürt, dass ich genau da richtig bin.
Das spirituelle Geschenk des Loslassens
Der Morgen der Abfahrt war kühl.
Ein bisschen diesig.
Fast so, als würde auch das Wetter vorsichtig sein.
Ich brachte ihn auf den Schulhof.
Da standen sie schon: die Busse.
Die Lehrkräfte mit ihren Listen.
Ein paar Eltern, die wie ich versuchten, zu lächeln, obwohl ihnen das Herz bis in die Knie gerutscht war.
Sohn 02 war aufgeregt.
Sehr.
Er hielt sich tapfer – aber ich sah es: Seine Augen suchten ständig. Seine Finger nestelten. Sein Körper war voller Spannung – bis zum Zittern.
Die Freude war da.
Aber sie war nicht leicht. Sie war schwer.
Weil sie so viel bedeutete.
Ich umarmte ihn.
Nicht zu fest. Nicht zu lang.
Nur so, dass er wusste: Ich bin da.
Und Ich traue dir das zu.
Dann ging er mit den anderen in die Schule.
Und winkte.
Rief: „Tschüss, Papa.“
Ganz normal.
Als sei das nichts Besonderes.
Aber ich wusste: Für uns war es das.
Weg war er.
ich ging zum Auto.
Und dann kamen sie.
Die Tränen.
Nicht dramatisch.
Einfach da.
Loslassen ist ein heiliger Moment.
Ein Sterben und ein Wachsen zugleich.
Ein Abgeben an Gott.
Und irgendwie wusste ich: Genau das passiert jetzt.
Ich lasse los. Und Gott fängt auf.
Nicht, weil ich stark genug bin, dieses Vertrauen tatsächlich aufzubringen.
Sondern weil ich geliebt genug bin, um vertrauen zu dürfen.
Vielleicht ist das das spirituelle Geheimnis des Loslassens:
Dass wir dabei nicht leerer werden – sondern weiter.
Offener. Weicher. Verbundener.
Impulse für dich – wenn du ein Kind begleitest, das viel fühlt
🌀 Du musst keine Lösung sein.
Dein Kind braucht keine perfekte Antwort auf seine Gefühle.
Es braucht einen Menschen, der bleibt.
Der aushält, was gerade tobt.
Der nicht versucht zu erklären – sondern einfach da ist.
Ein Ort, an dem große Gefühle willkommen sind.
🌀 Wenn dein Kind mehr fühlt, als es tragen kann, dann sei du das Gefäß.
Sei die weite Seele, in der auch Überforderung Platz hat.
Nicht um alles aufzufangen – aber um nicht wegzulaufen.
Manchmal ist das größte Geschenk, nicht zu reagieren, sondern zu resonieren.
🌀 Auch du darfst überfordert sein.
Du darfst nachts weinen, weil du nicht weißt, wie du das alles schaffen sollst.
Du darfst ratlos sein.
Du musst nicht immer ruhig bleiben – aber du darfst dich immer wieder rückverbinden.
Mit dir. Mit deinem Kind. Mit Gott.
🌀 Sprich über Gefühle – deine und seine.
Kinder brauchen Sprache, um innere Welten zu verstehen.
Wenn du benennst, was du fühlst („Ich bin gerade traurig, weil …“), lernt dein Kind:
Gefühle sind sagbar. Zeigbar. Teilbar.
Und wenn du mit ihm sprichst („Ich sehe, du bist wütend, weil …“), lernt es:
Ich werde verstanden – auch wenn ich nicht erklären kann, was los ist.
🌀 Gefühle brauchen Raum, nicht Reparatur.
Was dein Kind fühlt, ist nicht zu viel.
Es ist einfach: ehrlich.
Begleitung heißt, mit diesem Ehrlichsein sein zu dürfen – Schritt für Schritt.
🌀 Loslassen darf Tränen kosten.
Wenn du dein Kind ziehen lässt – zur Schule, zur Klassenfahrt, ins Leben –
dann ist es okay, dass du weinst.
Weil dein Herz liebt.
Und weil jede neue Freiheit deines Kindes auch ein Stück von dir mitnimmt.
Das ist kein Scheitern. Das ist Liebe in Bewegung.
🌀 Du musst nicht Gott spielen.
Du darfst glauben, dass da noch einer mitgeht.
Dass dein Kind auch gehalten ist, wenn du es nicht mehr halten kannst.
Dass es getragen wird – von Menschen, die da sind. Und von einem Gott, der sagt:
Ich bin da. Immer.
🫧 Wenn du gerade selbst durchgefühlt bist.
Wenn du atmest, aber merkst: Da könnte noch mehr Luft nach oben sein –
dann lade ich dich ein: „Einmal kurz Himmel atmen.“
Eine kleine Checkliste.
Mit Impulsen, die Raum schaffen.
Für dich selbst.
Für deine Seele.
Für das Kind in dir.
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Und am Abend war es still
Als ich wieder zu Hause war, stand sein Stuhl leer am Mittagstisch.
Seine Brotdose blieb im Regal.
Und zum ersten Mal seit Jahren war es … still.
Kein Rufen, kein Fragen, kein Poltern.
Nur dieser neue Raum.
Und eine Mischung aus Sehnsucht und Frieden, die ich nicht benennen konnte.
Ich habe mich auf sein Bett gesetzt.
Die Decke war glatt gezogen.
Sein Lieblingskuscheltier lag da – das zweite Exemplar, das hierbleiben durfte.
Und ich habe einen Moment lang die Augen geschlossen.
„Er ist unterwegs“, habe ich gedacht.
Und: Ich auch.
Denn wenn unsere Kinder wachsen, wachsen auch wir.
Wenn sie Schritte ins Leben gehen, gehen wir mit – innerlich.
Und wenn wir sie loslassen, dann nicht, weil wir weniger lieben.
Sondern weil wir gelernt haben zu vertrauen.
Ich glaube, das ist Begleitung:
Nicht lenken. Nicht glätten. Nicht festhalten.
Sondern mitgehen, bis zur Grenze –
und dort stehen bleiben.
Mit einem offenen Herzen.
Und einem Gott an unserer Seite, der sagt:
Ich bin da. Für euch beide.
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Meer macht glücklich
Meer macht glücklich. Vor dem Urlaub, im Urlaub, nach dem Urlaub und weit darüber hinaus. Wird wieder Zeit für einen Strandtag, oder?!
Bilder: Dall-E, Canva, Privat.
Lieber Heiko
Hätten wir als Kind nicht alle genau das gebraucht:
Ein Papa der schlicht „ich bin da“ sagt.
Der nicht wegräumt, was überfordert.
Der mitträgt. Mit Herz. Mit Nähe. Mit Gegenwart.
Denn wenn man ein Kind war, das mehr fühlte, als es manchmal tragen konnte,
dann erkenne ich heute: Gefühle lassen sich nicht managen.
Gefühle brauchen Raum, nicht Reparatur.
Was ich fühle, ist nicht zu viel.
Gott bietet immer einen Ort, an dem grosse Gefühle willkommen sind.
Ich lerne heute, loszulassen – und zu vertrauen. Und Gott fängt auf.
Nicht, weil ich stark genug bin, dieses Vertrauen tatsächlich aufzubringen.
Sondern weil ich geliebt genug bin, um vertrauen zu dürfen.
Dein Beitrag ist direkt in mein Herz gesprungen 💖
Welch ein Glück bist Du für Deinen Sohn – und er für Dich 🫠
Danke, dass Du Deine Gedanken hier aufgeschrieben und geteilt hast 🌟
Ich habe Tränen tiefster Erkenntnis geweint – und mein inneres Kind hat gelacht 😃
Liebe Grüsse aus Zürich nach Marburg,
Beatrice
Hallo Beatrice,
danke für deine tiefen Gedanken.
Was wünsche ich mir auch als Erwachsener immer wieder genau solche Menschen, die einfach da sind und bei denen ich nicht das Gefühl habe, ich muss mich beschneiden, verstecken o. Ä. – das brauchen wir alle so sehr. Unser Leben lang. Einfach, weil wir Menschen sind.
Da erlebe ich Gott selbst als so unfassbar heilsam, Raum schenkend und annehmend – und das ist im wahrsten Sinne des Wortes wunderbar.
Alles Liebe
Heiko
Hallo Heiko,
ich bin tief berührt von deiner Erzählung – ein paar Tränchen kullern. Ich kann die Geschichte so gut nachfühlen! Vielen Dank für deine Worte 🙏
Hab vielen lieben Dank, Anette.
Fürs Lesen, Berühren lassen, Mitfühlen …
Alles Liebe
Heiko