Kabuki ist ein Arschloch

Kategorisiert in Familie mit Behinderung
Kabuki ist ein Arschloch: Kabuki-Maske

Kabuki. Ein Wort, das mir bis vor wenigen Jahren absolut kein Begriff war. Und trotzdem prägt es seither unsere Familie und beeinträchtigt Sohne 02 besonders und uns andere Familienmitglieder auch ganz schön. Alle unsere Ideen davon, wie (Familien-)Leben aussehen sollte, hat es über den Haufen geworfen. Aber wir leben Familie, lieben Familie und feiern Familie – mit und trotz Kabuki. 

Familienidyll in unseren Köpfen

Als meine Frau und ich noch jung und naiv waren (zumindest jünger und naiver als jetzt), hatten wir ganz viele Ideen, Vorstellungen und Wünsche in Kopf und Herz, wie unsere Familie aussehen und sich entwickeln sollte. Wir wollten viele Kinder und haben unser Familienidyll im Kopf sehr gemocht.

Und dann sah es lange so aus, als würde daraus nichts würden. Also so gar nichts. Mit ärztlich bestätigter Diagnose und so. Das hat uns erst ziemlich traurig und dann wütend gemacht. Irgendwann haben wir akzeptiert, das unser Leben ganz anders laufen würden als erträumt und sind in Leitungsaufgaben in der Arbeit mit Kindern eingestiegen. Meine Frau hat eine KiTa aufgebaut, ich durfte eine Kinderfreizeiteinrichtung für Kinder benachteiligter Familien leiten. Darin sind wir absolut aufgegangen und haben fast alles daran geliebt (na ja, ziemlich viel zumindest). Und dann – für uns wirklich plötzlich und aus heiterem Himmel: Schwangerschaft. Ein großer Jubel und die Frage: Wie machen wir unser Leben jetzt wieder passend für Kind und Familie, wo wir doch mühsam alles umgeplant hatten?

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Die immer mit ihren komischen Ideen

Und dann waren wir auf einmal die „Normalfamilie“: Mama, Papa, Kind. Nee, was haben wir das genossen. Und da wir ja wahnsinnig viele Gedanken „von früher“ im Kopf hatten, wie wir uns Familie so vorstellen würden, konnte es auch gleich richtig losgehen. Familienbett, bindungsorientierte Erziehung, möglichst viel Zeit mit Mama und Papa, plastikfrei, schon ganz früh alles Essen am Tisch auch dem Kind anbieten etc. In unserer Familie haben uns viele für ein klein wenig bescheuert gehalten, glaube ich. Zumindest interpretiere ich manche Gesichtsausdrücke und leichtes Augenrollen im Nachhinein so 😉 Aber uns ging’s gut.

Und dann kam mal wieder das Leben dazwischen und wirbelte alles durcheinander. Nach einem hohen Haufen schmerzlicher Erfahrungen, fanden wir uns in einer anderen Stadt, mit neuen Jobs und irgendwas zwischen Erschöpfung und Trauma wieder. Und gar nicht so viel später – wieder völlig unerwartet und ungeplant – Schwangerschaft. Die Freude war wieder riesengroß. Zum zweiten Mal gegen alle medizinische Statistik gewonnen. Wenn das kein Grund zum Feiern ist.

Irgend etwas stimmt da nicht

Die Geburt rückte näher, alles war organisiert. Sohn 01 sollte zum ersten Mal eine Nacht „alleine“ bei Oma und Opa verbringen. Der neue Erdenbewohner durfte also rauskommen. Die Geburt lief nicht so dolle, also Einleitung,. Dann wurden die Herztöne des Kindes schlechter. Not-Kaiser-Schnitt. Das ging dann ganz plötzlich und auf einmal legt mit die Hebamme ein Mini-Menschlein in den Arm. Viel mehr Glücksgefühl auf einmal kann’s ja gar nicht geben.

Auf Station dann die erste Untersuchung. Ich sitze noch ganz glückselig auf dem Stuhl, als ich die Schwester sagen höre: „Herr Metz, irgend etwas stimmt da nicht. Kommen sie mal gucken.“ Natürlich komme ich sofort, schon mit ungutem Gefühl in der Magengegend. Und tatsächlich, da wo eigentlich ein Po-Loch sein sollte, ist einfach keins. Während die Schwester mir erklärt, was die Ursache sein könnte, geht auf einmal ein Alarm los. Die Sauerstoffsättigung bei Sohn 02 rauscht in den Keller und dann läuft alles wie in einem Film an mir vorbei. Aufgeregte Schwestern, mehrer Ärzt:innen, Beatmung, dann auf einmal ein Säuglings-RTW der nahe gelegenen Uniklinik, das Kind kommt in einen Kasten, wird hier und da angeschlossen. Am Ende sind da mehr Schläuche als Kind und eine Ärztin gibt mir zu verstehen, das ich im Weg stehe.

In der Folge warte ich Stunden vor der Intensivstation ohne zu wissen, was jetzt eigentlich los ist. Morgens um drei, darf ich rein und zum Sohne, der immer noch verkabelt und verschlaucht in einem Kasten liegt. Eine Ärztin erklärt mir, was sie „auf die Schnelle“ an Fehlbildungen und Problemstellungen bei ihm gefunden haben und was das alles heißen und bedeuten könnte. Ich verlasse die Intensivstation in Richtung meiner Frau mit der Gewissheit: Das kann das Kind nicht überleben. Mehr als ein paar Tage sind nicht drin.

Ein Name hilft … auch nicht wirklich

Es folgen Monate auf der Intensivstation, viele verschiedene OPS, Diagnostiken, Papierkram und und und. Das Herz, die Nieren und der Verdauungstrakt weisen Fehlbildungen auf, der Gaumen ist viel zu hoch, das Zwerchfell nicht richtig gespannt und vieles mehr. Irgendwann bekommen die Herausforderungen einen Namen: Kabuki-Syndrom. Eher selten, zuerst in Japan beschrieben, wo Theatermasken ähnliche Merkmale aufweisen, wie die Gesichter von Kindern mit diesem Syndrom (deswegen der Name) und eine manifeste Behinderung.

Sohn 02 kämpft sich durch und die Ärtz:innen und Therapeut:innen geben auch alles. Und irgendwann wird so etwas wie das Einüben eines neuen Familienalltags möglich. Zwar mit Pflegedienst, Bürokratiemonstern und viel Sorge und Unsicherheit, aber immerhin. Zwischendurch immer wieder OPs, neue Therapien, die nötig werden und das Gefühl, dass uns Krankenkasse, MDK etc. bald besser kennen, als wir selbst.

Dann wird eine Herz-OP nötig. Aus der eh schon heftigen OP werden drei und mehrere Monate Intensivstation. Die meiste Zeit komplett sediert, mit fulltime Dialyse und allem zipp und zapp. Bangen um Leben und Tod. Die Frau bezieht ein Miniwohnung am Klinikort, Sohn 01 und ich schlagen uns zu Hause irgendwie durch. Mit Blick zurück, weiss ich gar nicht, wie wir das geschafft haben. Kabuki ist ein Arschloch. Ein ziemlich grosses sogar.

So leben wir als behinderte Familie

Mittlerweile ist Sohn 02 6 Jahre alt. Unser Familienzusammenleben ist sicher nicht „normal“ (was auch immer das ist), aber wir sind so so so so froh, dass wir ein gemeinsames Familienleben zu viert haben dürfen. Das sah in den letzten Jahren so oft nicht danach aus, dass wir lange etwas voneinander haben würden …

Natürlich, die Herausforderungen sind mannigfaltig.

  • Meine Frau geht nicht auswärts arbeiten, weil die Pflege, Betreuung und Begleitung von Sohn 02 ein voller Vollzeitjob ist.
  • Deswegen arbeite ich extern. In Haupt- und zwei Nebenjobs. Gute Bedingungen für uns als behinderte Familie zu schaffen, ist ganz schön teuer.
  • Die Familien-OrGa ist dementsprechend aufwendig.
  • Wir sind froh über alle Unterstützung, die in Deutschland möglich ist und gleichzeitig unfassbar müde, wie viel Aufwand, WIndmühlenkämpfe und sinnfreies Immer-wieder-Anträge-Stellen und Warten das ist. Alleine um beispielsweise passende Windeln für ein fünfjähriges Kind vom Versorger unserer Krankenkasse beziehen zu können – und das möglichst noch in ausreichender Menge, ist eigentlich ein Hochschulstudium nötig.
  • Auch wenn Sohn 02 sich in seinem Rahmen echt gut entwickelt, die körperlichen Beeinträchtigungen bleiben und werden auch noch diverse OPs nach sich ziehen. Eine geistige Beeinträchtigung ist ebenfalls vorhanden.
  • Jeder neue Kontrolltermin zwecks Nieren oder Herz erschöpft uns schon im Vorfeld emotional fast zur Gänze. Einfach, weil da ja wieder was neues schlimmes bei rauskommen könnte.
  • Dass die Nieren irgendwann ersetzt werden müssen, ist ein Damokles-Schwert, das überallhin mitgeht. Und überhaupt: wie lange Sohn 02 wirklich leben kann und wird ist deutlich ungewisser, als bei seinem Bruder.
  • Apropos: Irgendwie auch den Bedürfnissen von Sohn 01 gerecht zu werden ist ein echter Drahtseilakt. Von unseren Bedürfnissen als Ehepaar und Einzelpersonen mal ganz zu schweigen.
  • Und die Aussicht, dass Sohn 02 vielleicht lebenslang Hilfe benötigen wird und wir evtl. nie aus der sich akut kümmernden Elternrolle herauskommen … da will ich gar nicht so viel drüber nachdenken.

Familienidyll und Realität

Was ist von unseren ursprünglichen Ideen für Familie übrig geblieben? Gar nicht so viel 😉

  • Wir haben immer noch ein Familienbett. Aber dann hört’s auch schon auf.
  • Wir wollten viel reisen mit den Kids für Weltoffenheit und so was. Aber ist da eine entsprechende Klinik in der Nähe und haben wir genug Urlaub vor dem Urlaub um alle Bedarfe zu planen, Pflegekram zu besorgen und zu packen? Eher nicht. Wir wollten deutlich mehr als zwei Kinder. Jetzt sind wir uns sicher: Wir packen keins mehr dazu. Echt nicht. So schön es wäre.
  • Wir wollten möglichst nachhaltig und pastikfrei und … Wusstest du, dass medizinische Pflegeprodukte alle einzeln in Plastik verpackt sind? Dass Sondennahrung in Minifläschen angeboten wird (natürlich auch aus Plastik), von denen man am Tag mehrere benötigt? Sohn 02 hat alleine einen größeren CO2-Fußabdruck, als wir anderen drei zusammen.
  • So könnte die Liste weitergehen.

Also alles anders. Am Ende lebt unsere Familie wahrscheinlich mit denselben Herausforderungen wie alle Familien, nur halt in der Kabuki-Version: intensiver, schneller wechselnd, mit höheren Hochs und tieferen Tiefs. Mit mehr Emotionsexplosionen und Zukunftssorgen. Vielleicht öfter am Rand der absoluten Überforderung (und darüber hinaus) Aber auch bewusster.

Wir haben immer wieder Momente, in denen uns ganz klar vor Augen steht: Das Leben von Sohn 02 hätte schon mehrfach vorbei sein können. Wie lange es letztlich wärt, wissen wir nicht. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass er so richtig alt wird, ist nicht so wahnsinnig hoch. Das bedeutet: Wir wollen jeden Moment möglichst auskosten. Das Leben und unser Miteinander genießen. Das Geschenk unserer Familie feiern, das Leben an sich und die Liebe. Wollen Gott die Ehre geben, dass dieser unglaublich coole und warmherzige Kerl unser Leben bereichert.

Das macht die Herausforderungen nicht kleiner, aber es setzt den einzig richtigen Fokus. Wir wollen leben und lieben, das Leben genießen und feiern. Aller Behinderung, Bürokratie, Überforderung und Angst zum Trotz. Nimm das Kabuki.

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Bild von Miguel Á. Padriñán auf Pixabay

2 Kommentare

  1. Lieber Heiko,
    danke für deine Bezeichnung „Behinderte Familie“, denn die trifft es im Kern. Alle Familienmitglieder sind beteiligt, herausgefordert und vielfach daran gehindert, einen „normalen“ Alltag zu leben. Auch „professionelle Stellen“ haben dieses Thema ganz oft zu wenig auf dem Schirm, so ist jedenfalls meine Erfahrung.

    Und überhaupt, danke für deine Blogartikel, in denen du über deinen Alltag mit einem behinderten Kind schreibst. Es wird zu wenig darüber geschrieben. Auch mir fällt es (noch) zu schwer, über meine behinderte Familie zu schreiben, obwohl auch das ein großer Teil von mir ist. Vielleicht kommt das. Du bestärkst mich darin!

    1. Liebe Marion,
      vielen lieben Dank für deinen Kommentar.
      Wie wunderbar, dass meine „Wortschöpfung“ mit dir resoniert. Das freut mich.
      Noch mehr freut mich, dass dich mein Schrieben dabei bestärkt eure Geschichte als „behinderte Familie“ zu erzählen. Wir brauchen mehr davon. Ich würde eure Geschichte auf jeden Fall sehr gerne hören!
      Gruß
      Heiko

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