Wenn ich das gewusst hätte: wollen wir ein behindertes Kind bekommen?

Veröffentlicht am Kategorisiert in Familie mit Behinderung
Wenn ich das gewusst hätte: wollen wir ein behindertes Kind bekommen?

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Das Leben ist echt nicht fair. Im Gegenteil: Es wirft dir wann und dann Stolpersteine oder dicke Felsbrocken in den Weg. Und ab und zu donnert sogar eine ganze Lawine runter. Wie lässt sich so eine Lebenskrise überstehen? Zumal, wenn es dabei um das eigene Kind geht? Was gibt Hoffnung?

Wenn ein Kind geboren wird …

… sich entwickelt und all das Gute und Schöne, das Gott in diesem „neuen Menschen“ angelegt hat, zum Vorschein kommt, ist das immer ein Wunder – ein wunderbares Wunder geradezu. Erst recht, wenn direkt nach der Geburt festgestellt wird, dass der frische Erdenbewohner mit diversen Fehlbildungen zur Welt gekommen ist und sein Überleben und Entwickeln alles andere als sicher ist. So haben wir es 2017 bei der Geburt von Sohn 02 erlebt.

Seitdem spreche ich mit vielen Menschen über die schwierige, für uns emotional kaum fassbare und noch weniger sinnvoll handlebare Situation rund um Sohn 02. Es ist unfassbar, wie viele Menschen an uns denken, für uns beten, uns unterstützen und in aller eigenen Hilflosigkeit trotzdem signalisieren wollen: Ihr seid nicht allein. Das tut unglaublich gut. Vor Kurzem sagte in einem solchen Gespräch jemand zu mir: „Wenn ich vor der Geburt meines Kindes gewusst hätte, dass es so krank ist und was das dann konkret für Folgen hat, dann hätte ich, glaube ich, lieber kein Kind bekommen.“ Da musste ich kurz drüber nachdenken … wollen wir ein behindertes Kind bekommen?

Was man alles wissen könnte

Wenn ich vorher gewusst hätte, wie chronisch krank und dadurch behindert Sohn 02 werden würde. Wenn ich gewusst hätte, wie viel Mist, Schmerzen, Zwang und Angst er erleben und durchleiden muss. Wenn ich gewusst hätte, wie körperlich weh es einem tun kann, wenn das eigene Kind völlig unschuldig und unverdient leidet. Wenn ich vorher gewusst hätte, wie sehr das unser aller Leben bestimmen und prägen wird. Wenn ich gewusst hätte, was das alles kostet an Zeit, Kraft, Geld. Wie groß der Strauß von Stilblüten deutscher Bürokratie werden wird, den wir quasi nebenbei so ansammeln. Wenn ich gewusst hätte, wie überfordernd das für jeden Einzelnen meiner Familie werden wird, ebenso wie für uns zusammen.

Wenn ich gewusst hätte, dass Ärzte auch nur Menschen sind. Menschen, die ich in einem Moment bewundere und liebe, weil sie meinem Kind helfen; und manchmal Sekunden später zutiefst wütend auf ihre Kommunikationsunfähigkeit, ihre Beschränkungen in Diagnose und Therapie bin. Wenn ich das gewusst hätte, dass meine Kraft, meine emotionale Belastbarkeit, mein Vertrauen in Gott als gut und zugewandt, meine Ehe, mein Bild von mir als Vater, Ehemann, Glaubender und Mensch so stark gefordert werden würden, wie noch nie. Oft über die Grenzen des bisher vorstellbaren, manchmal über die Grenzen des eigentlich Möglichen hinaus. 

Wenn ich das gewusst hätte, dass wir völlig unvorbereitet, im Nebel nach einem sicheren Grund stochernd, Entscheidungen treffen sollen, eigentlich müssen, uns dagegen sträuben und irgendwie doch auch wollen, die über Leben und Tod befinden. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass ich irgendwann noch nicht einmal mehr weiß, wofür ich konkret beten soll. Und Gott dieses Kind nur noch hinhalten und bitten kann: Mach es gut mit ihm – und lass uns nicht irre werden daran.

Wenn ich das gewusst hätte … dann

Wenn ich das alles vorher gewusst hätte. Ich hätte im Ethikunterricht in TABOR wohl (noch) besser aufgepasst, als es um Sterbehilfe und ähnliches ging. Gebracht hätte das zwar wahrscheinlich auch wenig. Denn die theoretische Beschäftigung mit einem solchen Thema ist halt noch nicht mal das Abziehbild des Hauchs eines Dunstes einer Ahnung von dem, was es in echt und wirklich bedeutet, wenn man es selbst durchlebt.

Ich hätte gehörig Angst gehabt, dann aber in typischer Selbstüberschätzung gedacht: „Das packen wir schon“ und wäre zur Tagesordnung übergegangen.

Ich hätte es wohl einfach nicht geglaubt – noch nicht einmal mir selbst.

Ist das nicht aber auch egal?

Jetzt hab ich das alles vorher nicht gewusst. Ich weiß auch nicht, wie alles weiter gehen und welche an Herausforderungen es weiter mit sich bringen wird. Ich kann nicht sagen, wie das Urteil von Sohn 02 zu der Frage ausfallen würde, ob er selber lieber nicht geboren worden wäre, wenn …

Aber ich kann für mich mehr als deutlich sagen: Egal wie (über-)anstrengend das alles sein mag. Egal wie viel es mich persönlich kostet, diesen kleinen Mann durch sein bisher sehr unfreundliches Leben zu begleiten. Ich liebe diesen Minikerl. Und dieser Liebe ist es – immer wieder zu meinem eigenen Erstaunen – egal, wie hoch die Kosten sind. Sie freut sich am anderen und konserviert die schönen Momente, wunderbaren gemeinsamen Erlebnisse und und und.

Wenn ich das alles vorher gewusst hätte. Die Frage „Wollen wir ein behindertes Kind bekommen?“ stellt sich für uns nicht. Ich wollte die Momente trotzdem nicht missen, wenn ich nach einem langen Tag nach Hause komme und Sohn 02 vor Freude nicht weiß, wohin mit sich, weswegen er gleichzeitig grinst wie ein Honigkuchenpferd, mit beiden Händen winkt und wild den Kopf schüttelt. Ich wollte die Momente nicht missen, zu erleben, wie sehr sich die beiden Brüder lieben. Wie sie es beide genießen, wenn wir als Familie zusammen sind und einfach Zeit haben. Ich möchte nicht verpasst haben zu erleben, wie sich Sohn 02 an mich kuschelt, wenn ich ihn auf den Arm nehme, weil er sich erschrocken, der Pflegedienst ihn geärgert oder der Arzt mal wieder erfolglos versucht hat, Blut abzunehmen. Oder wie Sohn 02 auf seine Weise und in seinem Rahmen die Welt entdeckt und freudig-stolz ist, wenn ihm etwas Neues gelingt …

Verrückt, oder?!

Das ist irgendwie verrückt. Ich weiß, was uns das alles bisher schon gekostet hat und kann nur erahnen, was es uns noch abverlangen wird. Rein vernünftig betrachtet … aber der Liebe ist das ziemlich Wurscht. Die freut sich lieber über alles Schöne, das da ist und ist gespannt, was wir noch zusammen erleben werden. Wie wir uns immer besser kennenlernen und Beziehung (aus-)bauen können. Wie wir das Geschenk des Anderen immer mehr als solches annehmen und feiern. 

So sehr es aktuell vielleicht eher nach mieser Prognose und begrenzter Lebenszeit aussieht – die Liebe hat noch viel vor. Was für ein Wunder!

Ich freue mich darauf.

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8 Kommentare

  1. Hallo Heiko,
    deine Worte wie Kinderintensivtation, „wenn ich das vorher gewusst hätte“ oder „Ärzte sind nur Menschen“ kommen mir so unglaublich bekannt vor. Unser Sohn hat es leider nicht geschafft und starb. Ich kann daher nur deine anfänglichen Fragen und Ängste nachvollziehen. Das Akzeptieren der Situation, wie auch immer diese aussieht, ist der Schlüssel zum Glück. Nimmt man es an, formt man sich eine neue Weltanschauung. Euer Sohn ist ein besonderes Kind. Das Leben mit ihm ist sicherlich anstrengend aber bestimmt auch motivierend. Er schenkt euch jeden Tag ein Lächeln und zeigt euch, dass ihr alles schaffen könnt. Mit viel Liebe! Macht weiter so!
    Viele Grüße
    Stefanie

    1. Hallo Stefanie,
      danke fürs Lesen und Relaten!
      Ja, da hast du sehr recht. Annehmen, was auch immer da ist (und noch kommen mag) ist definitiv ein Schlüssel. Auch wenns manchmal beinhart ist, das Annehmen,
      Wir sind absolut froh, dass unser Sohn bei uns sein darf – auch in allem, was uns heraus- und manchmal überfordert.

      Viele Grüße
      Heiko

  2. Diese Worte sind 💓. Ja es ist bestimmt eine große Belastung für alle, aber es ist ein Kind und euer Sohn wächst anders auf als das Kind wo die Eltern die Ärztin/Arzt verklagt haben weil sie sagen dieses Kind hätten sie abgetrieben hätten sie mit dieser Klarheit gewusst wie das sein wird mit ihrem Kind. Wie arm ist dieses Kind und wie glücklich ist euer Kind, dass ihr es so begleitet, obwohl es nicht so leicht ist. Danke, dass ihr solche Eltern seid.

    1. Hallo Magdalena, hab vielen Dank für deine Anteilnahme.
      Wir sind sehr froh, dass wir das alles so sehen dürfen, von vielen Menschen unterstützt werden und wir bisher die Kraft geschenkt bekommen, entsprechend zu leben.
      Das ist absolut nicht selbstverständlich.
      Gruß, Heiko

  3. Hallo Heiko, das ist ein sehr berührender Text, den du geschrieben hast. Ich bin selbst mit einer behinderten Schwester groß geworden und kann auch im Nachhinein nur erahnen, was meine Eltern investiert haben, an Liebe und Zeit und Kämpfen.
    Dir und deiner großartigen Familie wünsche ich von ganzem Herzen alles Gute!

  4. Hallo Heiko,
    danke für das Teilen deiner Gedanken. Jeder Satz grundehrlich, zweifelnd, hoffend und doch durchtränkt von deiner Liebe.
    Ich habe nicht die Spur einer eigenen Erfahrung mit einem chronisch kranken Kind, kann nur ansatzweise erahnen, was die Behinderung bedeutet.
    Doch danke für deinen Artikel, der auf für mich grossartige Art genau das feiert: das Leben an sich, die Liebe, die in jedem Moment steckt, so wir sie erkennen.
    Ich habe tiefen Respekt für dich und deine Familie, schicke, weil ich sonst nicht wirklich etwas tun kann, eine extra Portion Kraft und Energie.
    Herzlichst,
    Gabi

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