Das Lebensloch: Wenn das Leben zu viel wird

Kategorisiert in Burning on, Familie mit Behinderung
Das Lebensloch: Karte „Willkommen zu Hause“

Kennst du das Freizeitloch? Das ist sicher kein wirklicher Fachbegriff. Aber wer schon mal Mitarbeiter:in auf einer Freizeit war, weiß meist direkt, was ich meine. Aber was bitte ist ein Lebensloch? Als behinderte Familie kennen wir dieses Loch ganz gut … während meines Burn-outs habe ich mich dort zeitweise sogar häuslich eingerichtet.

Meine Freizeitlöcher

Ins Freizeitloch falle ich nach einer tollen, schönen, kraftkostenden, intensiven, lustigen, gotteserfahrungsreichen, schlafdefizitären, tiefgehenden, gemeinschaftsbildenden … Freizeit. 

Eigentlich hatte ich mich auf zu Hause gefreut und darauf, in meinem  „normalen Leben“ all das anzuwenden und Wirklichkeit werden zu lassen, was ich mit Gott erlebt und von ihm gelernt habe.

Aber auf einmal bin ich wirklich wieder zu Hause. Meine Wegbegleiter der letzten Tage auch –  nur halt woanders. Ich merke, wie müde und platt ich nach dieser Freizeit bin. Höre den garstigen Alltag wieder anklopfen. Sehe meine geistlichen Höhenflüge und Innigkeit mit Gott sich recht schnell in recht viel Rauch auflösen. Fühle mich irgendwie frustriert, leer. Und bin darüber wütend, dass es so ist, wie es ist. Außerdem fangen genau jetzt meine tausend einhundertfünf Mückenstiche an zu jucken – und wo ich überall Sonnenbrand hab … ihr kennt das.

Das hat mich natürlich nie davon abgehalten, bald auf die nächste Freizeit zu fahren 😉

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Freizeitloch ohne Freizeit

2019 gings mir erstmals irgendwie ähnlich – nur ohne Freizeit. Ich sitze in einem Lebensloch. Die Hälfte der Familie war für ein gutes halbes Jahr im Krankenhaus. Das war zwar nicht so schön, wie eine Freizeit. Aber kraftkostend, intensiv, gotteserfahrungsreich, schlafdefizitär, tiefgehend und auslaugend war es auch. Eigentlich haben wir uns neben der Verbesserung der Situation unseres Sohnes nur eines gewünscht: Dass wir endlich wieder zusammen sind als Familie, dass die Trennung und alles Negative endet, was damit einhergeht. Darauf haben wir gehofft, darum immer wieder gebangt und dann darauf hingefiebert, als es endlich Wirklichkeit zu werden schien.

Jetzt sind wir seit ein paar Wochen wieder zusammen und zu Hause als Familie. Darauf haben wir hin gelebt. Und es ist wunderschön!

Wir sitzen drin im Loch

Aber, ich hab auch das Gefühl, ich bin in ein ganz schön tiefes Lebensloch gefallen. Auf einmal müssen sich zwei Überlebensstrategien wieder zu einer verbinden. Man darf nicht nur zusammenleben – man muss auch. Halt sogar dann, wenn es schwierig wird, Stress gibt, Ansichten divergieren und man eigentlich Zeit bräuchte, um zu diskutieren, zu verstehen, einzufühlen und dann gemeinsam Kompromisse zu finden. Eigentlich. Wenn die Situation mehr fordert, als wir noch zu geben bereit oder fähig sind. Die Hypothek der letzten Monate ist groß. Dazu zeigt sich die fehlende emotionale Spannkraft nicht nur mal kurz beim Besuch am Nachmittag, wo sie sich mit einem mehrheitlich gewollten Lächeln überspielen lässt, sondern mitten drin im Alltag. Sprich: im Leben. Dazu kommen Medikamente, Termine, drei Ärzte mit fünf(-zehn)  Meinungen, viel OrGa-Kram, so was wie Haushalt und … man, man, man. Dieses Lebensloch ist tief.

Wir haben uns so aufeinander gefreut – und schaffen es jetzt nur sehr bedingt, das zu genießen. Manchmal erhaschen wir einen Moment, der es wirklich durch schafft bis in unser Herz. Dann ist die Freude groß und das Lächeln breit – oft aber nur, um kurz darauf in einem allgemeinen Seufzen zu (ver-)enden.

Man ist mit der Gesamtsituation unzufrieden, die so belastend, anstrengend, fordernd, auslaugend … ist, dass sie das Schöne irgendwie verdeckt, vielleicht verschluckt, ja manchmal gefühlt geradezu einsaugt.  Zwar ist das zusammen alles irgendwie besser auszuhalten – aber mehr als aushalten, ist es dann halt doch nicht. Oder? Doof, so ein Lebensloch.

Ein Tag im Loch

Deswegen sehen unsere Tage nach dem viel zu langen Krankenhausaufenthalt 2019 so (oder ähnlich) aus:

  • Es gibt viel zu tun auf der Arbeit, weswegen ich versuche möglichst pünktlich und ohne allzu viele Sabberflecken und Kakaoknutschflecke das Haus zu verlassen. 
  • Die allgemeine Aufregung ist groß – für den Mikrometz stehen diverse Termine an, der Minimetz soll pünktlich im Kindergarten sein, auch wenn er dazu „heute, also nur ausnahmsweise“ so gar keine Lust hat und nebenbei die neue Sportart „Extrem-Trödeln“ erfindet.
  • Während ich im Bus neben einer Frau sitze, deren Parfum mich immer wieder an den Rand einer Ohnmacht führt, nimmt ein anderer Wagen meiner Frau die Vorfahrt.  Um ein Haar hätte es gekracht, wie man so schön sagt. Der Minimetz ist mittlerweile im Kindergarten, den Mikrometz hätte es voll erwischt. Zum Glück brauche ich kein Riechsalz nach der Info. Hab ja einen gefühlten Parfumladen in meiner Nase.
  • Der Tag verläuft getrennt, wie neuerdings wieder üblich.
  • Abends, mitten im Gewirr der täglichen To-dos rund um Abendessen, Wohnungschaos beseitigen, Minimetz bettfertig machen, Mikrometz pflegerisch versorgen und und und, schreit die Frau auf einmal auf.
  • Da ist doch tatsächlich –  also beim Entleeren des Stomabeutels in eine bereitliegende Windel –  irgendwie muss der Mikrometz an die Windel gekommen sein und – warum haben die Thermostate an Heizungen eigentlich offene Rillen? Wenn sie die nicht hätten, würd da jetzt nicht die ganze Sch… hineinlaufen. Wie kriegt man das jetzt bloß wieder sauber neben schreiendem Kind, fragendem zweiten Kind, was denn los sei und glucksender Oma am Telefon, die das lustig findet, weil es nicht ihr passiert ist?
  • Nachdem die Schlacht so weit geschlagen ist (wir sind uns noch nicht einig, ob die Reinigung ausreichend war, wir es noch mal versuchen, oder einfach das ganze Thermostat entsorgen), kugeln sich die Jungs fröhlich quiekend durchs Bett. Zumindest bis der Mikrometz den Schlauch seiner Magensonde so gekonnt am Bettgestell einklemmt, dass er sich unter lautem Gebrüll die ganze Magensonde rausrupft, als er sich weiterdreht.
  • Also schreiendes Kind aus dem Bett und irgendwie alles wieder zusammenbasteln – den Älteren währenddessen mit Biene Maja ruhig stellen („Papa, das macht nichts, wenn ihr euch um meinen Bruder kümmern müsst, ihr könnt da ruhig langsam machen!“).
  • Am Ende haben wir alles – mit mittlerweile chirurgischer Präzision und Gelassenheit – wieder in den Ursprungszustand versetzt. Meine Frau sagt immer wieder etwas fassungslos so etwas, wie: „Dass so was alles in einen Tag passt. Sag doch mal ehrlich, so was passiert doch eigentlich nicht einfach so, oder??
  • Ich kann darauf grad nicht mehr antworten, weil ich weinen muss. Wir verstehen uns.

Räuberleiter – eine tolle Erfindung

Eine Nacht später sitzen beide Jungs beim Frühstückstisch auf meinem Schoß und kuscheln. Der Minimetz schreit nach der Mama: „Du musst auch kommen. Dann ist es am schönsten!“ Und dann kuscheln wir halt alle zusammen und genießen den Moment, der es bis zum Herzen schafft. Ich könnte schon wieder heulen (Irre Sache – ich bin eigentlich so was von gar nicht emotional. Echt jetzt!). Ein neuer Tag beginnt. Ich bin gespannt.

Was bleibt?  Auch angesichts von großen und sich seither wiederholenden Lebenslöchern: Allein wärs im Loch nur halb so schön. Allein wärs auch viel schwieriger wieder herauszukommen. Mal schauen, wie lange wir brauchen, um den Jungs eine anständige Räuberleiter beizubringen

Das war spannend? Dann lies mal DAS hier:

Bilder: privat, Dall-E, Canva.

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