Wenn ein Gebet plötzlich Bedeutung bekommt
Lange Zeit war das Vaterunser für mich einfach nur ein Gebet unter vielen. Es gehörte irgendwie dazu – zur Kirche, zu Gottesdiensten, zu bestimmten Anlässen. Ich habe es mitgesprochen, ja. Aber es hatte wenig mit meinem persönlichen Glauben zu tun. Es blieb äußerlich, formal, fast ein bisschen leer.
Ich war eher jemand, der spontan betet, der Gott in eigenen Worten begegnen will. Vorgefertigte Gebete fühlten sich für mich oft distanziert an – so, als würde ich ein Formular ausfüllen. Ich wollte Gott sagen, was ich wirklich denke und fühle. Nicht das wiederholen, was andere sich ausgedacht haben.
Und doch gab es diesen Moment, der alles verändert hat. Ich war bei einer Fortbildung in einem alten Kloster untergebracht. Die Klosterkirche war noch erhalten, ein einfacher, ehrwürdiger Raum, durchdrungen von Geschichte und Stille. Unsere Gruppe sprach dort gemeinsam das Vaterunser – langsam, klar, jede Stimme deutlich hörbar. Die Worte hallten von den alten Mauern zurück, als ob sie nicht nur in den Raum, sondern durch die Zeit selbst klangen.
In diesem Moment wurde mir bewusst, dass genau in diesem Raum über Jahrhunderte hinweg Menschen dieses Gebet gesprochen haben. Nicht nur irgendein Gebet – sondern genau diese Worte. In aller Zerbrechlichkeit, in aller Hoffnung, in aller Ehrfurcht. Und ich stand jetzt hier und war Teil dieser Tradition. Verbunden mit unzähligen Menschen vor mir, in verschiedenen Zeiten, Kulturen, Sprachen – und dennoch im selben Gebet.
Das hat etwas in mir zum Klingen gebracht.
Vater unser im Himmel.
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
(Die Bibel: Matthäus 6,9-13 nach der Luther-Bibel)
Eine neue Tiefe – mitten im Burnout
Wirklich tief ist das Vaterunser aber erst in einer anderen Phase meines Lebens geworden – in einer, in der nichts mehr ging. Während meiner Burnout-Erfahrung war mein Leben heruntergedimmt. Alles, was ich vorher über mich geglaubt hatte – dass ich stark bin, belastbar, tragfähig – war ins Wanken geraten.
Ich konnte nichts mehr leisten, und plötzlich war die Frage unausweichlich: Was bin ich noch wert, wenn ich nicht funktioniere?
Diese Frage war keine Kopf-Sache. Sie ging tiefer. Sie traf mich ins Mark. Denn ich hatte meinen Selbstwert stark über das definiert, was ich tue, was ich trage, wie ich wirke. Und jetzt konnte ich nicht mehr. Ich war erschöpft, innerlich leer, spirituell sprachlos.
Genau in dieser Sprachlosigkeit ist mir das Vaterunser zur Hilfe geworden. Ich musste nicht selbst Worte finden. Ich konnte mich einfach hineinlegen in dieses Gebet, es mitsprechen, auch wenn ich innerlich kaum etwas spürte. Es war da. Treu. Einfach. Tragend.
Und besonders eine Zeile hat sich immer wieder in mein Herz geschlichen: „Geheiligt werde dein Name.“ Erst verstand ich sie nicht. Dann wurde sie zu einer Frage: Was bedeutet das eigentlich – Gottes Namen heiligen – wenn ich nichts leisten kann? Wenn ich nicht mal aus dem Bett komme? Wie soll das gehen?
Und doch war genau hier der Wendepunkt.
Ich begann zu ahnen: Gottes Name ist heilig – unabhängig davon, was ich tue. Er ist heilig, weil er Gott ist. Und ich bin geliebt, weil ich ich bin. Nicht, weil ich stark bin. Nicht, weil ich etwas beitrage. Sondern einfach, weil ich zu ihm gehöre.
Diese Erkenntnis war nicht nur tröstlich, sie war heilsam. In ihr steckte Freiheit. Eine Freiheit, die mir niemand außer Gott zusprechen konnte.
Zwischen Gebot und Gebet
„Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen“ – dieses Gebot war mir natürlich bekannt. Es stellt eine klare Grenze: Gottes Name ist kein Instrument für menschliche Machtspiele, kein Vorwand für Unterdrückung, keine rhetorische Floskel.
Aber das Vaterunser geht weiter. Es formuliert keinen Befehl, sondern eine Bitte. Es ist keine Anordnung, sondern eine Einladung. Kein „Du sollst“, sondern ein „Lass es geschehen“.
„Geheiligt werde dein Name“ – das klingt nach Sehnsucht. Danach, dass Gottes Wesen sichtbar wird. Nicht nur in Worten, sondern in der Art, wie wir leben, wie wir miteinander umgehen, wie wir mit uns selbst umgehen. Es ist ein Gebet, das mein Herz anspricht und mich gleichzeitig daran erinnert, dass ich Gottes Namen ehre, wenn ich seinen Maßstäben Raum gebe – nicht denen der Welt.
Wie wird Gottes Name heute geheiligt?
Diese Frage lässt sich nicht ein für alle Mal beantworten. Sie ist tief mit dem Leben verbunden – mit dem historischen Kontext, mit den persönlichen Umständen, mit der Kultur, in der man lebt.
Menschen unter politischer Unterdrückung oder Krieg werden eine andere Antwort finden als Menschen in Freiheit und Wohlstand. Auch mein eigenes Leben kennt unterschiedliche Antworten auf diese Frage – je nachdem, wo ich gerade stehe. Mal ist es ein innerer Akt des Widerstands gegen Leistungsdruck. Mal ein freundlicher Blick, den ich jemandem schenke, der von der Welt übersehen wird. Manchmal ist es das bewusste Verzichten auf Rechthaben oder die Entscheidung, im Konflikt nicht zurückzuschlagen.
Gottes Name wird geheiligt, wo Menschen ihn ernst nehmen. Wo sein Wesen sichtbar wird: Barmherzigkeit. Gerechtigkeit. Liebe. Wo wir nicht nur über Gott reden, sondern so leben, dass andere etwas von ihm spüren können.
Das ist nicht leicht. Es ist auch keine tägliche Heldentat. Aber es beginnt im Kleinen – in Haltungen, Gesten, Entscheidungen. Und es beginnt immer wieder neu. Genau das meint: Geheiligt werde dein Name – durch uns, mitten im Alltag.
Hey Gott, du bist unser Vater im Himmel.
Wir wollen dich ehren, weil du der Größte bist.
Wir wünschen uns, dass deine neue Welt kommt
und dass das, was du willst, auch bei uns passiert –
so wie es bei dir im Himmel geschieht.
Gib uns, was wir heute brauchen, damit wir überleben.
Und vergib uns, was wir falsch gemacht haben,
so wie wir auch denen vergeben haben,
die an uns schuldig geworden sind.
Bring uns nicht in Situationen, in denen wir versagen,
und rette uns vor dem Bösen.
Denn du bist der wahre König,
dir gehört die ganze Macht und alle Ehre – für immer!
Amen.
(Die Bibel: Matthäus 6,9-13 nach der Volxbibel)
Ein Gebet, das bleibt
Ich werde das Vaterunser vermutlich nie ganz verstehen. Ich werde wahrscheinlich nie alle Bitten gleichzeitig im Herzen mittragen oder in meinem Alltag konsequent umsetzen können. Aber das ist auch nicht der Punkt.
Dieses Gebet begleitet mich wie ein geistliches Fundament. Es fordert mich heraus, wenn ich offen dafür bin – und es trägt mich, wenn ich keine Kraft mehr habe. Es stellt keine Leistungserwartung, sondern lädt mich ein, mich immer wieder mit Gott zu verbinden. In Freud und Leid, in Klarheit und Zweifel.
Seit einiger Zeit bete ich das Vaterunser täglich. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus Sehnsucht. Es hilft mir, mich wieder auszurichten. Es öffnet mir einen Raum, in dem ich ehrlich vor Gott sein kann, ohne viel erklären zu müssen.
Ich bete es oft mit Worten, manchmal aber auch nur im Stillen. Ich denke nicht jedes Mal über jede einzelne Bitte nach. Aber ich weiß: Diese Worte sind tragfähig. Weil sie über mich hinausweisen – und gleichzeitig tief in meinem Leben verwurzelt sind.
Sie erinnern mich daran, wer Gott ist. Und wer ich in seinen Augen bin.
Schlussgedanke
Gottes Name ist heilig – unabhängig von mir.
Aber ich darf in meinem Leben einen Raum schaffen, in dem seine Heiligkeit erfahrbar wird.
Und das ist vielleicht das Schönste, was ein Mensch tun kann.
So geht’s weiter im Vaterunser
🙋♂️ FAQ: Häufige Fragen zum Vaterunser und zur Zeile „Geheiligt werde dein Name“
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Lieber Heiko,
In deinem Blogartikel zum Vater unser ist sehr viel persönliche Tiefe zu mir gekommen, was das Gebet in verschiedenen Situationen in dir ausgelöst hat. Auch wie du erstmalig dessen so bedeutende Wirkung erlebt hast. Das finde ich sehr berührend. Dein Artikel ist auch sehr schön gestaltet.
Hey Regine,
habe vielen Dank für deine schöne Rückmeldung.
Danke fürs Berühren-Lassen.
Alles Liebe
Heiko
Lieber Heiko,
vielen Dank das du deine sehr persönlichen Erfahrungen zum Vater unser teilst. Das hat mich sehr berührt.
Ich kenne das, manchmal kommen mir einzelne Teile des Vaterunsers schwerer über die Lippen. Ich bete es dennoch täglich zu Beginn der Meditation und verbinde mich damit mit dem Weg Jesu und allen Menschen die dieses Gebet sprechen. Danke dir. Viele Grüße von Mangala aus Münster
Hallo Mangala,
diese Erkenntnis ist für mich tatsächlich jedes Mal wieder der Hammer: wie sehr uns dieses Gebet mit wahnsinnig vielen Menschen auf der Welt, und mit noch mehr durch die Zeiten verbindet. Gänsehautfeeling.
Alles Liebe
Heiko