Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 1.
Heute wird unser Grundgesetz 75 Jahre alt. Ein echter Grund zum Feiern! Mit diesem Grundgesetz haben wir als Gesellschaft viel erreicht. Auf seiner Grundlage. Also eigentlich wegen des Grundgesetzes …
Gleichzeitig ist noch viel zu tun.
Bin heute, am Grundgesetz-Feiertag, mit Sohn 02 im IKEA. Sitze mit einem Kaffee im „Retauron“ (wie Sohn 02 sich auszudrücken beliebt). Für den Sohn gibts einen Schokopudding, den er mit lautem „Hm, lekka. Papa, willt du pobieren?“ rührt, anleckt und dabei über den Rand des Glases schmiert. Wirklich essen kann man das jetzt nicht nennen, aber das hatte ich auch gar nicht erwartet. „Der is köslich!“, lässt sich der Sohn neben mir vernehmen. „Hat ich ein Glück!“. So weit, so schön, so normal (für uns).
Unser Sohn hat das Kabuki Syndrom – mehr dazu hier.
Durch den Gang laufen naturgemäß viele Leute. Ein etwa kindergartenalter Junge läuft mit seinem Papa vorbei, fixiert Sohn 02 währenddessen und fragt dann mit erhobener Stimme: „Papa, was ist mit dem Jungen?“ Der Angesprochene verzieht kurz das Gesicht und sagt dann nicht weniger laut. „Weiß nicht. Ist halt behindert. Sieht man doch. Also anders. Komisch … und dumm. Jetzt komm weiter.“
Die Würde des Menschen ist unantastbar?!
Was bin ich froh, dass Sohn 02 gerade so mit seinem Pudding beschäftigt ist, dass er nichts davon mitbekommen hat.
Ein besonderes Jubiläum
Heute feiern wir 75 Jahre Grundgesetz. Diese Verfassung hat uns nicht nur Rechte und Freiheiten gebracht, sie ist auch das Herz unserer Demokratie. Sie schützt die Vielfalt und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Doch diese Rechte müssen jeden Tag aufs Neue verteidigt werden, besonders in Zeiten, in denen dunkle Kräfte versuchen, unsere Freiheit zu untergraben.
Das Grundgesetz ist klar und einfach: Es geht um Freiheit und Würde. Es garantiert u. a. das Recht, sich frei zu bewegen, seine Meinung frei zu äußern und an freien Wahlen teilzunehmen. In Würde leben zu dürfen, egal wie ich sozial, gendertechnisch, religionsbezogen etc. verorte und egal, wie viel ich leisten und beitragen kann.
Doch diese Rechte müssen wir lebendig halten, besonders für diejenigen, die oft übersehen werden – benachteiligte Gruppen. Und ja, aus meiner Sicht natürlich vor allem Menschen mit Behinderung.
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
So steht es in Artikel 1. Doch diese Würde darf nicht nur ein Wort auf Papier sein. Sie muss in unserem täglichen Handeln sichtbar werden. Es liegt an uns, die Rechte des Grundgesetzes für alle Menschen zu sichern. Helfen wir, die Barrieren abzubauen, die Menschen mit Behinderungen im Weg stehen und Freiheit zu ermöglichen. Setzen wir uns ein für eine Gesellschaft, in der jeder die gleichen Chancen hat und Würde wirklich möglich ist.
Wir müssen den Mut haben, die Umsetzung des Grundgesetzes, seiner Kerngedanken, einzufordern. Das bedeutet, Ungerechtigkeiten nicht still hinzunehmen, sondern laut zu werden. Es bedeutet, für die Rechte der Schwächsten in unserer Gesellschaft einzutreten.
Und wenn ich nicht so perplex gewesen wäre … oder Sohn 02 den Verbaldurchfall neben uns mitbekommen hätte, ich hätte mich sicher zu einer Erwiderung aufgerafft. Gleichzeitig bin ich auch ein wenig müde, dass niemand von den anderen Menschen, die sich allesamt stolze Ohrenbesitzer nennen dürfen, etwas erwidert hat. Für die Würde aufgestanden ist.
Übrigens: Dass der Junge gefragt hat, ist überhaupt kein Problem und absolut OK. Wie sollen Kinder sonst lernen, Andersartigkeit wahrzunehmen, zu inkludieren und zu schätzen? Es geht mir hier vor allem um uns Erwachsene.
Schützen wir, was uns schützt. Setzen wir die Worte des Grundgesetzes in Taten um. Lasst uns für eine Welt kämpfen, in der die Würde jedes Menschen geachtet wird – jeden Tag und überall.
Meine Blogger-Kollegin Sylvia Tornau hat ebenfalls einen sehr lesenswerten Artikel zum Thema geschrieben. Ähnliches Ziel, ganz andere Perspektive.
Das war spannend? Dann lies mal DAS hier:
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Bilder: privat, Dall-E, Canva.
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Hallo Heiko,
obwohl unser Sohn „nur“ schlimme Neurodermitis (auch im Gesicht) hatte, kenne ich ähnliche Kommentare von Erwachsenen. Das „harmloseste“ war der geflüsterte Satz „sowas fragt man nicht“. Bedeutet eigentlich „darüber redet man nicht“. Wenn es mir gut genug ging, habe ich den Kindern erklärt, was los ist. Ich finde es gut, wenn sie fragen und lernen mit „andersartigen“ Kindern/Menschen umzugehen beziehungsweise, dass Andersartigkeit normal ist. Den ersten Artikel unseres Grundgesetzes wirklich zu leben, ist wohl die größte Herausforderung der Menschheit …
LG Ursula
Hallo Ursula,
ja, die Herausforderung ist riesig, da hast du wohl recht!
Ich finde eine ehrliche Kinderfrage total gut und wichtig. Sie sind einfach ehrlich. Ihnen fällt etwas auf und sie wollen es verstehen.
Und wenn man dann einfach normal drüber sprechen kann, ist das Thema meistens schnell erledigt. Und dann kann Miteinander entstehen.
Das könnten wir viel öfter brauchen 🙂
Gruß, Heiko
Lieber Heiko,
was für eine dumme Antwort eines achtlosen, desinteressierten Vaters auf die neugierige, wissbegierige Frage seines Kindes! Es tut mir sehr leid, dass du das hören musstest.
Anlässlich des Europatages hat meine große Tochter in der Schule im Rahmen des Erasmus-Projektes zum Thema Ableismus gearbeitet und die Ergebnisse öffentlich ausgestellt. Es gibt hier wie auch zu anderen Themen wie Bodyshaming, Sexismus und Rassismus noch viel zu tun – in den Köpfen der Menschen und im alltäglichen Miteinander. Um die Würde des Menschen tatsächlich zu wahren.
Sehr herzlich
Pia
Hallo Pia,
vielen Dank dir.
Was für ein cooles Projekt von deiner Tochter. Solche Dinge brauchen wir noch viel mehr!
Viel Erfolg dabei und Grüße an die Tochter!
Heiko
Lieber Heiko,
was für ein guter Gedanke, den 75. des Grundgesetzes zum Anlass zu nehmen, auf die Lage und Herausforderungen von Menschen mit Behinderung aufmerksam zu machen.
Die von dir geschilderte Situation lässt mich sprachlos zurück. Da fehlte leider schon beim Erwachsenen eine „gute Kinderstube“. Wie sonst lassen sich solche Äußerungen und die deutlich fehlende Empathie erklären? Schade, dass das nun so ans Kind weitergegeben wird.
Ich fürchte, da ist noch viel Luft nach oben, wenn ich mir das so bedenke.
Und ja, du hast recht, wir alle müssten uns in einer solchen Situation angesprochen fühlen. Denn du als Elternteil bist von den täglichen Herausforderungen müde, vollkommen verständlich. Es wäre also ganz im Sinne der Solidarität in unserer Gesellschaft, die Last auf viele Schultern zu verteilen.
Gut, dass dein Sohn das nicht mitbekommen hat. Ein Stachel bleibt trotzdem.
Ich wünsche dir viele andere Erlebnisse.
Herzliche Grüße
Irina
Hey Irina,
vielen Dank dir. Die anderen Erlebnisse gibt es auf jeden Fall auch. Und so lange die positiven leicht überwiegen, sitzt der Stachel auch nicht zuuuu tief.
Ich war kürzlich bei einer Lesung mit Bundespräsident a.D. Joachim Gauck. Einer seiner Sätze, der mir hängen geblieben ist, war: „Man krepiert nicht an Zivilcourage. Im Gegenteil: Das ist eine Menschenmöglichkeit.“ Das dürfen wir uns immer wieder ins Gedächtnis rufen, denke ich.
Gruß, Heiko
Lieber Heiko, ich finde es spannend, dass auch du die Idee zu einem Artikel über das Grundgesetz hattest. Genau solche Situationen, wie du sie hier schilderst, sind es, die ein Einstehen füreinander so wichtig macht. Zu hören und zu sehen, was gesagt und zu wem es gesagt wird, wäre ein Anfang. Zu erkennen, dass du als Vater zu perplex warst, um etwas zu erwidern und auch zu müde. Ich bin Therapeutin und als solche für die Innenschau, den Selbstbezug der Menschen tätig, aber eben auch für gute Verbindungen zu anderen Menschen. Die letzten Jahre waren geprägt von Persönlichkeitsentwicklung und Besinnung auf das, was im Inneren des Menschen vor sich geht, allerdings vermute ich, wir haben als Gesellschaft dabei ein wenig den Blick nach Außen vergessen. Die Wachsamkeit und Fürsorge füreinander, die gegenseitige Unterstützung. Je mehr Menschen mit sich selbst in Balance kommen, desto mehr scheint es Außen ins Ungleichgewicht zu geraten. Die Würde des Menschen ist unantastbar, das sollte für die Würde jedes einzelnen Menschen gelten, nicht nur für die Menschen in der eigenen Blase. Danke für deinen Beitrag. Herzliche Grüße Sylvia
Hallo Sylvia,
ja, da ist viel Wahres dran, glaube ich.
Am Ende benötigen wir gute Beziehungen zu uns selbst, genauso wie zu anderen. Und dazu noch eine zur (Um-)Welt und zu etwas Höherem, Größeren als ich (in meinem Fall ist das Gott). Das hilft uns, ausgeglichener und achtsamer zu sein. Und auch mal für andere auf- und einzustehen. Dafür lohnt sich jedes Coaching, jedes Gespräch etc. finde ich.
Gruß, Heiko